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Ganz vorn in einem Fotobuch
ist dem Autor wie dem Leser am wenigsten wohl. Denn da vorn fängt
es rücksichtslos mit optischen Gesetzen an. Viele wissen das und
lesen es deshalb grundsätzlich nicht. Aber diese Anfangsgründe
müssen nicht unbedingt die Poesie mathematischer Lehrsätze
haben. Es soll versuchsweise einmal nicht langweilig werden. "Im Anfang war das Loch" © Thomas Gade
Lesen Sie jetzt gleich auf S.
18 weiter, wenn Sie mit ein paar Faustregeln zufrieden
sind, ohne die Zusammenhänge zu kennen. Mit diesen Faustregeln
können Sie bei schönen Wetter 90% Ihrer Aufnahmen machen.
Sie werden damit ein tüchtiger Roboter sein.
Aber erstens ist nicht immer schönes Wetter und zweitens fotografiert
man schließlich mit dem Kopf. Das Roboter-Schema auf S.
18 ist nebenbei kein "Ersatz" und kein oberflächliches
Knisper-Schema, sondern es ist das System gewitzter alter Kamera-Leute,
sodaß man dann am weitaus meisten von der Fotografie begreift,
wenn man weiß, warum dieses Schema funktioniert. Dort sitzt der
Schlüssel zur Fotografie.
Es geht nicht ohne etwas Theorie. Aber wir werden ihr gewissermaßen
den Vollbart abnehmen. Und wir treiben die Theorie nicht um der Theorie
willen, wir fragen lediglich: wieso funktioniert solch ein Schnappschuß-Schema
eigentlich? Wir erfinden es nochmals und wissen dann gleich noch eine
ganze Menge mehr. Wir beginnen mit der ungeheuerlichen These.
Verhängen Sie ihr Fenster, wie bei einer Verdunkelungs-Übung,
aber diesmal bei Tageslicht. Bohren Sie mit den Finger ein Loch in den
Vorhang. Setzen Sie sich gemütlich in einen Sessel, Sie erleben
dann nach 400 Jahren nochmals die Sensation, die schon Leonardo da Vinci
auf die gleiche Weise erlebte: Sie sehen an der Rückwand Ihres
Zimmers, auf dem Kopf stehend und spiegel-
verkehrt, z.B. den Eingang Ihrer schloßähnlichen
Villa. " Dasselbe in klein" ist eine
Kamera, eine Loch-Kamera, die Großmutter aller Kameras. Wir freilich
können diese Kamera-Großmutter nicht brauchen, denn das Bild,
das sie liefert, ist lichtschwach und nicht sehr scharf. Die eleganten
Töchter der Großmutter haben sich eine Art mondänen
Monokels zugelegt: das Objektiv. Sie arbeiten damit lichtstark und sehr
scharf. Aber auch sie sind letzten Endes nur "Lochkameras mit Komfort".
Und lediglich der Komfort ist es, der so leicht verblüfft, aber
nicht verblüffen darf.
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Das Objektiv ist ein gewaltiges Plus. Gleichzeitig eine
Klippe, wenigstens für den Neuling. Vor Jahrzehnten noch war es
eine Glasscherbe, eine gewöhnliche Sammellinse wie jedes Vergrößerungsglas
("Brenn"-Glas, daher auch Brennweite, die Entfernung, in der
das Bild der Sonne "brennt"). Jetzt ist es zum Anastigmaten
emporgezüchtet, besteht aus vielen Linsen und hat den Blick eines
Polizei-Kommissars. Aber seine Schärfe ist eine Art Renommierschärfe.
Man kennt Ähnliches vom Theaterglas und vom Feldstecher her: scharf
ist immer nur die Entfernung, auf die man einstellt, das übrige
ist mehr oder weniger unscharf.
Das, was sehr stark fehlt, ist "Tiefenschärfe",
d.h. Schärfe auch vor und hinter der Einstellentfernung.
Man braucht die Tiefenschärfe aber leider. Denn würde man
das Objektiv auf angenommen 3 m einstellen, dann würde ja alles
diesseits und jenseits der 3-m-Entfernung unscharf.
Bitte denken Sie jetzt noch nicht an die "Blende". Sie ist
nur ein Trick, die Tiefenschärfe zu erhöhen, auch ohne diesen
Trick hat nämlich das Objektiv schon einige Tiefenschärfe.
Kurioserweise am meisten, wenn man es auf Ferne einstellt. Wir können
sie bitter nötig brauchen, diese "Gratis-Tiefenschärfe"
und deshalb wollen wir sie zunächst einmal untersuchen. Wir bauen
eine 9/12-Kamera vor einer Baumreihe auf, die nach der Tiefe gestaffelt
ist. Wir öffnen den Verschluß und beobachten auf der Mattscheibe:
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Erster Einstell - Versuch:
Mit ungeblendetem Objektiv auf Nähe eingestellt (Baum2). Nur Baum
2 ist scharf ("scharf" heißt konturenscharf, nicht etwa
hart, kontrastreich!).
Zweiter Einstell - Versuch:
Einstellung auf Mittelgrund (Baum 6). das gänzlich ungeblendete
Objektiv entwickelt bereits eine Menge Tiefenschärfe, "Gratis"-
Tiefenschärfe! Merkwürdigallerdings, daß hinten 4 Bäume
scharf sind und vorn nur 2. Wir sind Optimisten und sagen: vorn 2 Bäume
scharf und hinten noch viel mehr.
Dritter Einstell - Versuch:
Wir verlegen den Einstell-Punkt noch weiter nach hinten (Baum 9). Die
Tiefenschärfenräume wachsen, diesseits wie jenseits. Vor allem
wieder jenseits. Sogar die fernste Ferne ist schon ziemlich scharf.
Aber dafür sieht es im Vordergrund umso böser aus.
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Vierter Einstell-Versuch:
Der Wissenschaft halber stellen wir auch einmal auf Unendlich (°°)ein,
auf große Ferne. Ferne sehr scharf, Vordergrund völlig verschwommen.
Das müssen wir uns erst einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen
. So benimmt sich also ein Objektiv. Eigentlich eine Menge "Gratis-Tiefenschärfe".
Allerdings sehr bedingt. Wenig bei Naheinstellung. Und stets hinten
mehr als vorn. Aber niemals das ganze Bild scharf.
Und jetzt erst vergreifen wir uns an der Blende. Wir stellen auf einen
beliebigen Punkt im Mittelgrunde ein, schließen die Blende. Wir
stellen auf einen beliebigen Punkt im Mittelgrunde ein, schließen
die Blende um eine Marke und merken, daß es zwar erstens dunkler
wird auf der Mattscheibe, daß aber zweitens die Tiefenschärfe
wächst, sowohl diesseits wie jenseits der Einstellentfernung (jenseits
aber stets relativ mehr). Wir schließen die Blende um eine weitere
Marke. Es wird noch dunkler und die Tiefenschärfe wächst weiter.
Aber wir ahnen schon jetzt: diese nützliche Blende nimmt eine erhebliche
Menge Licht. Soll unsere Landschaft vom Vordergrund bis in die Ferne
scharf werden, so müssen die Aufnahme zwar bestimmt blenden, wir
können das aber sowohl geschickt wie ungeschickt tun, rationell
wie unrationell.
Unrationell wäre das bei Einstellung auf Nähe(Baum2). Dann
müßten wir diesen Lichtschlucker, die Blende, so weit schließen,
daß es fast völlig finster in unserer Kamera wäre.
Ungeschickt wäre auch die Unendlich-Einstellung. Der Falle wäre
der gleiche: bis der Vordergrund scharf wird, kämen wir auf die
allerkleinsten Blenden.
Wir kalkulieren deshalb sehr richtig, wenn wir uns sagen: die Wahrheit
muß bei einer mittleren Einstellung liegen! Und darum stellen
wir jetzt nochmals auf Baum 6 ein (wie bei unserem Einstellversuch 2)
und schließen die Blende auf versuchsweise 9 oder 12,5. Das Ergebnis
ist verblüffend:
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Fünfter und erfolgreichster Einstell-Versuch:
Bei Einstellung auf mittlere Entfernung und bei mittlerer Blende (9-12,5)
Schärfe vom Vordergrund bis in die Ferne .
Alle anderen Einstellungs- und Blendungs-Methoden wären (wenigstens
bei Landschaftsaufnahmen) unrationell, gäben viel zu kleine Blenden
und damit viel zu großen Lichtverlust. Damit haben wir das Prinzip
der Schnappschuß-Einstellung gefunden:
Möglichst große Tiefenschärfe (und damit natürlich
Universaleinstellung für beliebigen Entfernungen) unter mäßigem,
lichtsparendem Blenden. Mit dem Licht aber müssen wir sparsam umgehen,
denn wir wollen ja noch Moment-Aufnahmen bekommen, Aufnahmen aus der
Hand. Und dazu reicht die Blende 12,5 gerade noch aus. Wenigstens bei
gutem Licht und höchstempfindlichem Film. Sie ist unsere "Spar-Blende"
und wir bleiben bei ihr.
Wir ziehen die Summe:
Was wir gefunden haben, ist:
1. mit "Gratis"-Tiefenschärfe und "Sparblende"
bilden wir eine Art Schärfe-Garbe, mit der wir einen möglichst
tiefen Raum scharf erfassen (einem Schrotschuß vergleichbar, im
Gegensatz zur Kugel).
2. Da wir in der Kleinkamera keine Mattscheibe haben, hätten wir
die gewisse "mittlere" Entfernung, die die grundsätzlich
günstigste ist, nur aus einer Tiefenschärfen-Tabelle zu ermitteln.
Das ist auf S.18 schon geschehen, sogar für alle Kameras bis 6/9.
Die Einstellung auf Unendlich-Nah
3. Diese Einstellung ist die berühmte Einstellung auf "Unendlich-Nah".
Unglücklich wäre beispielsweise, wollte man auf Unendlich
einstellen und dann so lange blenden, bis auch der Vordergrund scharf
wird. Es würde finster in der Kamera. Man hätte kostbare Tiefenschärfe
"hinter den Horizont kippen" lassen. Denn gerade nach rückwärts
wächst sie (schon bei mäßigen Blenden) ja so gewaltig,
genügend jedenfalls schon bei einer Einstellung auf mittlere Entfernung.
4. Die Blenden-Zahlen (deutsche Blenden 3,2-4,5-6,3-9 usw., internationalen
Blenden 4-5,6-8-11-usw.) sind zunächst etwas "merkwürdige"
Zahlen. Ihre Merkwürdigkeit wird auf S.
21 erklärt. Wichtig ist für den Anfang nur, daß
Schließen der Blende um eine Marke stets Verdoppelung der Belichtungszeit
erfordert, bei beiden Systeme.
5. "Kleine" Blende heißt stets kleine Öffnung der
Blende. Dies nur, um Mißverständnisse auszuschließen.
Die kleineren Blenden haben stets die große Zahl (6,3-9 usw.).
Die größeren Blenden haben stets die kleine Zahl (3,2-4,5
usw.)
6. Wer neugierig ist könnte fragen: wieso bildet denn etwas so
Primitives wie eine Blende Tiefenschärfe bei etwas so Kompliziertem
wie einem Objektiv. Man kann das hinnehmen, wie es ist. Aber wer einen
kleine Denkübung nicht scheut, findet die Erklärung dafür
auf S. 168.
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