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Ganz vorn in einem Fotobuch

ist dem Autor wie dem Leser am wenigsten wohl. Denn da vorn fängt es rücksichtslos mit optischen Gesetzen an. Viele wissen das und lesen es deshalb grundsätzlich nicht. Aber diese Anfangsgründe müssen nicht unbedingt die Poesie mathematischer Lehrsätze haben. Es soll versuchsweise einmal nicht langweilig werden.

Lesen Sie jetzt gleich auf S. 18 weiter, wenn Sie mit ein paar Faustregeln zufrieden sind, ohne die Zusammenhänge zu kennen. Mit diesen Faustregeln können Sie bei schönen Wetter 90% Ihrer Aufnahmen machen. Sie werden damit ein tüchtiger Roboter sein.

Aber erstens ist nicht immer schönes Wetter und zweitens fotografiert man schließlich mit dem Kopf. Das Roboter-Schema auf S. 18 ist nebenbei kein "Ersatz" und kein oberflächliches Knisper-Schema, sondern es ist das System gewitzter alter Kamera-Leute, sodaß man dann am weitaus meisten von der Fotografie begreift, wenn man weiß, warum dieses Schema funktioniert. Dort sitzt der Schlüssel zur Fotografie.

Es geht nicht ohne etwas Theorie. Aber wir werden ihr gewissermaßen den Vollbart abnehmen. Und wir treiben die Theorie nicht um der Theorie willen, wir fragen lediglich: wieso funktioniert solch ein Schnappschuß-Schema eigentlich? Wir erfinden es nochmals und wissen dann gleich noch eine ganze Menge mehr. Wir beginnen mit der ungeheuerlichen These.

"Im Anfang war das Loch"

Verhängen Sie ihr Fenster, wie bei einer Verdunkelungs-Übung, aber diesmal bei Tageslicht. Bohren Sie mit den Finger ein Loch in den Vorhang. Setzen Sie sich gemütlich in einen Sessel, Sie erleben dann nach 400 Jahren nochmals die Sensation, die schon Leonardo da Vinci auf die gleiche Weise erlebte: Sie sehen an der Rückwand Ihres Zimmers, auf dem Kopf stehend und spiegel-




verkehrt, z.B. den Eingang Ihrer schloßähnlichen Villa. " Dasselbe in klein" ist eine
Kamera, eine Loch-Kamera, die Großmutter aller Kameras. Wir freilich können diese Kamera-Großmutter nicht brauchen, denn das Bild, das sie liefert, ist lichtschwach und nicht sehr scharf. Die eleganten Töchter der Großmutter haben sich eine Art mondänen Monokels zugelegt: das Objektiv. Sie arbeiten damit lichtstark und sehr scharf. Aber auch sie sind letzten Endes nur "Lochkameras mit Komfort". Und lediglich der Komfort ist es, der so leicht verblüfft, aber nicht verblüffen darf.


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Das Objektiv ist ein gewaltiges Plus. Gleichzeitig eine Klippe, wenigstens für den Neuling. Vor Jahrzehnten noch war es eine Glasscherbe, eine gewöhnliche Sammellinse wie jedes Vergrößerungsglas ("Brenn"-Glas, daher auch Brennweite, die Entfernung, in der das Bild der Sonne "brennt"). Jetzt ist es zum Anastigmaten emporgezüchtet, besteht aus vielen Linsen und hat den Blick eines Polizei-Kommissars. Aber seine Schärfe ist eine Art Renommierschärfe. Man kennt Ähnliches vom Theaterglas und vom Feldstecher her: scharf ist immer nur die Entfernung, auf die man einstellt, das übrige ist mehr oder weniger unscharf.



Das, was sehr stark fehlt, ist "Tiefenschärfe", d.h. Schärfe auch vor und hinter der Einstellentfernung.
Man braucht die Tiefenschärfe aber leider. Denn würde man das Objektiv auf angenommen 3 m einstellen, dann würde ja alles diesseits und jenseits der 3-m-Entfernung unscharf.
Bitte denken Sie jetzt noch nicht an die "Blende". Sie ist nur ein Trick, die Tiefenschärfe zu erhöhen, auch ohne diesen Trick hat nämlich das Objektiv schon einige Tiefenschärfe. Kurioserweise am meisten, wenn man es auf Ferne einstellt. Wir können sie bitter nötig brauchen, diese "Gratis-Tiefenschärfe" und deshalb wollen wir sie zunächst einmal untersuchen. Wir bauen eine 9/12-Kamera vor einer Baumreihe auf, die nach der Tiefe gestaffelt ist. Wir öffnen den Verschluß und beobachten auf der Mattscheibe:


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Erster Einstell - Versuch:
Mit ungeblendetem Objektiv auf Nähe eingestellt (Baum2). Nur Baum 2 ist scharf ("scharf" heißt konturenscharf, nicht etwa hart, kontrastreich!).



Zweiter Einstell - Versuch:
Einstellung auf Mittelgrund (Baum 6). das gänzlich ungeblendete Objektiv entwickelt bereits eine Menge Tiefenschärfe, "Gratis"- Tiefenschärfe! Merkwürdigallerdings, daß hinten 4 Bäume scharf sind und vorn nur 2. Wir sind Optimisten und sagen: vorn 2 Bäume scharf und hinten noch viel mehr.



Dritter Einstell - Versuch:
Wir verlegen den Einstell-Punkt noch weiter nach hinten (Baum 9). Die Tiefenschärfenräume wachsen, diesseits wie jenseits. Vor allem wieder jenseits. Sogar die fernste Ferne ist schon ziemlich scharf. Aber dafür sieht es im Vordergrund umso böser aus.

 

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Vierter Einstell-Versuch:
Der Wissenschaft halber stellen wir auch einmal auf Unendlich (°°)ein, auf große Ferne. Ferne sehr scharf, Vordergrund völlig verschwommen.
Das müssen wir uns erst einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen . So benimmt sich also ein Objektiv. Eigentlich eine Menge "Gratis-Tiefenschärfe". Allerdings sehr bedingt. Wenig bei Naheinstellung. Und stets hinten mehr als vorn. Aber niemals das ganze Bild scharf.
Und jetzt erst vergreifen wir uns an der Blende. Wir stellen auf einen beliebigen Punkt im Mittelgrunde ein, schließen die Blende. Wir stellen auf einen beliebigen Punkt im Mittelgrunde ein, schließen die Blende um eine Marke und merken, daß es zwar erstens dunkler wird auf der Mattscheibe, daß aber zweitens die Tiefenschärfe wächst, sowohl diesseits wie jenseits der Einstellentfernung (jenseits aber stets relativ mehr). Wir schließen die Blende um eine weitere Marke. Es wird noch dunkler und die Tiefenschärfe wächst weiter.
Aber wir ahnen schon jetzt: diese nützliche Blende nimmt eine erhebliche Menge Licht. Soll unsere Landschaft vom Vordergrund bis in die Ferne scharf werden, so müssen die Aufnahme zwar bestimmt blenden, wir können das aber sowohl geschickt wie ungeschickt tun, rationell wie unrationell.
Unrationell wäre das bei Einstellung auf Nähe(Baum2). Dann müßten wir diesen Lichtschlucker, die Blende, so weit schließen, daß es fast völlig finster in unserer Kamera wäre.
Ungeschickt wäre auch die Unendlich-Einstellung. Der Falle wäre der gleiche: bis der Vordergrund scharf wird, kämen wir auf die allerkleinsten Blenden.
Wir kalkulieren deshalb sehr richtig, wenn wir uns sagen: die Wahrheit muß bei einer mittleren Einstellung liegen! Und darum stellen wir jetzt nochmals auf Baum 6 ein (wie bei unserem Einstellversuch 2) und schließen die Blende auf versuchsweise 9 oder 12,5. Das Ergebnis ist verblüffend:

 

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Fünfter und erfolgreichster Einstell-Versuch:
Bei Einstellung auf mittlere Entfernung und bei mittlerer Blende (9-12,5) Schärfe vom Vordergrund bis in die Ferne .

Alle anderen Einstellungs- und Blendungs-Methoden wären (wenigstens bei Landschaftsaufnahmen) unrationell, gäben viel zu kleine Blenden und damit viel zu großen Lichtverlust. Damit haben wir das Prinzip der Schnappschuß-Einstellung gefunden:
Möglichst große Tiefenschärfe (und damit natürlich Universaleinstellung für beliebigen Entfernungen) unter mäßigem, lichtsparendem Blenden. Mit dem Licht aber müssen wir sparsam umgehen, denn wir wollen ja noch Moment-Aufnahmen bekommen, Aufnahmen aus der Hand. Und dazu reicht die Blende 12,5 gerade noch aus. Wenigstens bei gutem Licht und höchstempfindlichem Film. Sie ist unsere "Spar-Blende" und wir bleiben bei ihr.

Wir ziehen die Summe:

Was wir gefunden haben, ist:
1. mit "Gratis"-Tiefenschärfe und "Sparblende" bilden wir eine Art Schärfe-Garbe, mit der wir einen möglichst tiefen Raum scharf erfassen (einem Schrotschuß vergleichbar, im Gegensatz zur Kugel).
2. Da wir in der Kleinkamera keine Mattscheibe haben, hätten wir die gewisse "mittlere" Entfernung, die die grundsätzlich günstigste ist, nur aus einer Tiefenschärfen-Tabelle zu ermitteln. Das ist auf S.18 schon geschehen, sogar für alle Kameras bis 6/9.

Die Einstellung auf Unendlich-Nah

3. Diese Einstellung ist die berühmte Einstellung auf "Unendlich-Nah". Unglücklich wäre beispielsweise, wollte man auf Unendlich einstellen und dann so lange blenden, bis auch der Vordergrund scharf wird. Es würde finster in der Kamera. Man hätte kostbare Tiefenschärfe "hinter den Horizont kippen" lassen. Denn gerade nach rückwärts wächst sie (schon bei mäßigen Blenden) ja so gewaltig, genügend jedenfalls schon bei einer Einstellung auf mittlere Entfernung.
4. Die Blenden-Zahlen (deutsche Blenden 3,2-4,5-6,3-9 usw., internationalen Blenden 4-5,6-8-11-usw.) sind zunächst etwas "merkwürdige" Zahlen. Ihre Merkwürdigkeit wird auf S. 21 erklärt. Wichtig ist für den Anfang nur, daß Schließen der Blende um eine Marke stets Verdoppelung der Belichtungszeit erfordert, bei beiden Systeme.
5. "Kleine" Blende heißt stets kleine Öffnung der Blende. Dies nur, um Mißverständnisse auszuschließen. Die kleineren Blenden haben stets die große Zahl (6,3-9 usw.). Die größeren Blenden haben stets die kleine Zahl (3,2-4,5 usw.)
6. Wer neugierig ist könnte fragen: wieso bildet denn etwas so Primitives wie eine Blende Tiefenschärfe bei etwas so Kompliziertem wie einem Objektiv. Man kann das hinnehmen, wie es ist. Aber wer einen kleine Denkübung nicht scheut, findet die Erklärung dafür auf S. 168.


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